JUNGEStheaterKEN

Kantonsschule Enge Zürich

SPUREN - Migrationsgeschichten aus der Enge

„Ein Volk ohne Erinnerung hat keine Zukunft“, Patricio Guzmán, chilenischer Filmemacher

Seit vier Jahren gibt es nun schon das Junge Theater an der Kantonsschule Enge. Drei unterschiedliche Bearbeitungen von Klassikern haben die ersten drei Jahre geprägt. „Frühlingserwachen“, „R+J“ (Romeo und Julia), und „Tells Welle“, wo die Geschichte der „Welle“ von Ron Jones mit Schillers „Wilhelm Tell“ verwoben wurde. Jedesmal haben wir (Daniel Hajdu und ich) versucht Themen zu finden, die der Realität der Jugendlichen so nahe wie möglich kommen. Sei es die erwachende Sexualität, sei es Liebe in Zeiten religiöser Umbrüche, oder sei es die Bedeutung von Freiheit und Anpassung in einer Zeit, wo der Ruf nach Abschottung lauter wird. 

Dieses Jahr haben wir uns gefragt, wo kommen diese Schülerinnen und Schüler eigentlich her, die täglich die „Enge“ bevölkern. Was ist heute eine „Schweizer“ Schulklasse? Wie sieht sie aus? Um das herauszufinden wollten wir die Schülerinnen und Schüler in die Vorbereitungsphase miteinbeziehen. Also beauftragen wir sie, ihre Familiengeschichten zu recherchieren.

Bei der ersten Zusammenkunft war ich - als „Nichtlehrer“ - allerdings etwas überrascht, in fast ausschliesslich „Schweizer“ Gesichter zu schauen. Ich hatte mir die Mischung bunter vorgestellt. Und für einen Moment war ich etwas verunsichert. Würde genügend Material für interessante, vielfältige, theatral umsetzbare Geschichten zusammenkommen? Hatte ich mich getäuscht, in der Annahme, wir würden auf lauter „fremde“ Geschichten stossen? Ja, ich hatte mich getäuscht. Denn als die ersten Geschichten eintrafen, wurde mir schnell klar, wie sehr.

Von den fünfzehn Beteiligten gab es fast niemanden, der keine Emigrations- oder Immigrationsgeschichte zu erzählen hatte. Das Resultat ist auf der Bühne zu sehen. Es zeigt, fast jeder von uns hat Wurzeln, die in fremde Länder, in andere Kontinent reichen. Und wären die Mauern, nach denen heute gerufen werden, früher errichtet worden, wären die Meisten von uns gar nicht auf der Welt.

Nachdem wir die Geschichten eingesammelt hatten, ließen wir (Karen Bruckmann und ich) die Schüler improvisieren. Sie sollten ihre Großeltern, ihre Urgroßeltern, oder ihre Verwandten spielen. Auch hier überraschten mich die Schülerinnen und Schüler. Trotz der Nähe (oder vielleicht eben wegen dieser Nähe) zu den Personen, entstanden auf der Bühne bewegendste Momente, die ich jedenfalls nicht vergessen werde.

Der nächste Schritt, das Stück zu schreiben war einerseits einfach, weil ich eine Fülle an Material zu Verfügung hatte, andererseits war es extrem schwierig. Wie konnte ich all den Geschichten gerecht werden und den Beteiligten, die so viel Engagement in die Arbeit investiert und so viel von sich gezeigt hatten? Wie konnte ich zeitlich verschiedenste Biographien unter einen Hut bringen? So kam ich auf die Idee, das Ganze in einer Art Hotel spielen zu lassen, wo jeder seinen Spuren nachgeht. Und so checkt der Zuschauer nun mit den reisenden Schülerinnen und Schülern in das „Hotel Enge“ ein, das auch „Hotel Europa“ heißen könnte.

Gute Reise.

Jean-Michel Räber